Lage der Nation

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1. Rede zur Lage der Nation vor dem US-Kongress

(Washington, D.C., 30. Januar 1961)


Mr. Speaker, Mr. Vice-President, Mitglieder des Kongresses:

Es fällt mir schwer, den Gefühlen Ausdruck zu geben, die ich empfinde, wenn ich heute in dieser gemeinsamen Sitzung des Kongresses spreche. Sie sind meine ältesten Freunde in Washington – und dieses Haus hier ist mein vertrautes Heim. Hier habe ich vor mehr als vierzehn Jahren meinen ersten Eid als Volksvertreter abgelegt.
 
Hier habe ich vierzehn Jahre lang von den Mitgliedern beider Parteien in beiden Häusern Wissen und Anregung erhalten – von den klugen und grossen Führern des Kongresses, aus ihren Erklärungen und Ausführungen, an die ich mich lebhaft erinnere; ich denke an die Programme zweier grossen Präsidenten, an die glänzende Beredsamkeit Churchill's, an den erhebenden Idealismus Nehrus, an die festen Worte de Gaulles. Es erfüllt mich mit feierlichem Ernst, hier auf demselben historischen Podium zu sprechen. Und es erfüllt mich mit grosser Freude, wieder unter so vielen Freunden zu sein.

Ich vertraue darauf, dass diese Freundschaft dauern wird. Unsere Verfassung sieht in kluger Weise sowohl gemeinsam als auch getrennte Rollen für jeden Zweig der Regierung vor; ein Präsident und ein Kongress aber, die sich in gegenseitiger Hochachtung begegnen, werden weder irgendwelche Übergriffe zulassen, noch diese versuchen. Was mich angeht, so werde ich weder dem Kongress noch dem Volk irgendeine Tatsache oder irgendeinen Bericht – aus der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft - vorenthalten, die für eine freie und sich auf Wissen stützende Beurteilung unseres Verhaltens und unserer Wagnisse und Gefahren notwendig sind. Ich werde auch niemals die Bürde der Regierungsentscheidungen auf den Kongress abwälzen, noch werde ich mich der Verantwortung für das Ergebnis dieser Entscheidung entziehen.

Ich spreche heute in einer Stunde der nationalen Gefahr, aber auch der nationalen Möglichkeiten. Bevor meine Amtszeit abgelaufen ist, werden wir neu prüfen müssen, ob eine Nation, organisiert und regiert wie die unserige, weiterbestehen kann. Das Ergebnis ist keineswegs sicher, die Antworten sind keineswegs klar. Wir alle – unsere Regierung, der Kongress, die gesamte Nation – müssen gemeinsam die Antwort finden. Wollte ich aber, nachdem ich kaum mehr als eine Woche im Amt bin, einige Gesetzesvorschläge zur Beseitigung jedes nationalen Übels anbieten, dann würde der Kongress sich mit Recht fragen, ob der Wunsch nach Schnelligkeit an die Stelle der Pflicht zur Verantwortung getreten sei.
 
I.

Der Zustand unserer Wirtschaft ist beunruhigend. Wir übernehmen die Regierungsgeschäfte nach sieben Monaten der Rezession, nach dreieinhalb Jahren nachlassender Wirtschaftstätigkeit, nach sieben Jahren des verminderten wirtschaftlichen Wachstums und nach neun Jahren sinkender Einnahmen der Farmer. Die Konkursanmeldungen haben ihren höchsten Stand seit der grossen Depression erreicht. Seit 1951 ist das Farmereinkommen um 25 Prozent heruntergedrückt worden. Mit Ausnahme einer kurzen Zeitspanne im Jahre 1958 hat die Zahl der Arbeitslosen den höchsten Stand unserer Geschichte erreicht. Von etwa fünfeinhalb Millionen arbeitslosen Amerikanern bemühen sich über eine Million schon seit mehr als vier Monate um Arbeit. Und jeden Monat verlieren 150'000 ausgesteuerte Arbeiter ihre ohnehin schon bescheidene Arbeitslosenunterstützung. Rund ein Achtel aller jener, die keine Arbeit haben, leben fast ohne Hoffnung in nahezu hundert besonders darniederliegenden und von Krisen heimgesuchten Gebieten. Der Rest besteht aus Schulentlassenen, die ihre Fähigkeiten nicht anwenden können, aus Farmern, die ihre Halbtagsbeschäftigungen aufgeben mussten, welche bisher ihr Einkommen ausgeglichen hatten, aus Fachkräften und ungelernten Arbeitern, die in so wichtigen Industriezweigen wie der Metallindustrie, der Maschinenindustrie, der Automobilindustrie sowie der Schmuck- und Bekleidungsindustrie ohne Beschäftigung sind. Unsere Erholung von der Rezession im Jahre 1958 war unvollständig.

Kurz gesagt, die amerikanische Wirtschaft ist in Schwierigkeiten. Die mit grössten Hilfsquellen industrialisierte Wirtschaft der Erde rangiert hinsichtlich des wirtschaftlichen Wachstums unter den letzten. Seit dem vergangenen Frühjahr ist praktisch ein Rückgang eingetreten. Die Investitionen werden immer geringer. Die Gewinne sind unter den vorausgesagten Stand gefallen. Die Bautätigkeit nimmt ab. Eine Million unverkaufter Automobile stehen auf Lager. Weniger Menschen haben Arbeit – und die durchschnittliche Arbeitswoche ist auf weit unter 40 Stunden zusammengeschrumpft, die Preise sind weiter gestiegen.
Dass wirtschaftliche Prophezeiungen bestenfalls eine unsichere Kunst sind, beweist die hier von diesem Podium  aus vor einem Jahr gemachte Vorsaussage, 1960 würde das "Jahr der grössten Prosperität unserer Geschichte" sein. Dennoch wurden mit alarmierender Einmütigkeit ein weiterer Stillstand und eine nur geringfügig verminderte Arbeitslosigkeit für 1961 und 1962 vorausgesagt – und meine Regierung hat nicht die Absicht, tatenlos dabeizustehen.

Wir können uns keine Stunden des Müssiggangs und keine leeren Fabriken leisten, während wir auf das Ende einer Rezession warten. Wir müssen der Welt zeigen, was eine freie Wirtschaft leisten kann – nämlich Arbeitslosigkeit reduzieren, die ungenutzte Kapazität aktivieren und ein grösseres wirtschaftliches Wachstum im Rahmen einer gesunden Finanzpolitik und relativer Preisstabilität fördern.
 
II.

Eine wirksame Expansion im Lande selbst und die Ankurbelung der neuen Produktionsanlagen und –Methoden, die geeignet sind, unsere Güter konkurrenzfähiger zu machen, sind auch der Schlüssel zum internationalen Zahlungsbilanzproblem. Lassen wir alle Alarmmeldungen und Paniklösungen ausser Acht und rücken wir das Problem in die richtige Perspektive.
Es ist richtig, dass sich seit 1958 die Kluft zwischen den Dollarbeträgen, die wir im Ausland ausgeben oder investieren und den Dollarsummen, die in unser Land zurückfliessen, beträchtlich erweitert hat. Dieses Gesamtdefizit unserer Zahlungsbilanz nahm innerhalb der letzten drei Jahre um fast 11 Milliarden Dollar zu – und die Besitzer von Dollarguthaben im Ausland wandelten dies in einer solchen Grössenordnung in Gold um, dass dadurch ein Gesamtabfluss unserer Goldreserven in Höhe von fast 5 Milliarden Dollar eintrat. Das Defizit des Jahres 1959 wurde im wesentlichen dadurch verursacht, dass es unseren Exportgütern nicht gelang, die Auslandmärkte zu durchdringen – und zwar sowohl infolge der unseren Gütern auferlegten Restriktionen als auch auf Grund ihrer nicht wettbewerbsfähigen Preise. Das Defizit des Jahres 1960 war anderseits mehr die Folge des erhöhten Abflusses von amerikanischem Privatkapital, das im Ausland neue Anlagemöglichkeiten, höhere Erträge oder spekulative Vorteile suchte.
Zur selben Zeit hat unser Land weiterhin mehr als seinen Anteil am den Militär- und Auslandshilfeverpflichtungen des Westens zu tragen. Auf der Basis der derzeitigen politischen Gegebenheiten wird für 1961 ein Defizit von zwei Milliarden Dollar vorausgesagt. Und die Menschen jener Länder, deren Verbesserung ihrer Dollarlage einst von diesem Defizit abhing, fragen heute laut und vernehmlich, ob unsere Goldreserven wohl auch weiterhin ausreichen werden, um unseren Verpflichtungen nachkommen zu können.

All dies sind Dinge, die zwar Sorgen bereiten, aber dennoch keinen Anlass zur Verzweiflung geben. Denn unsere Geld- und Finanzposition bleibt weiterhin ausserordentlich stark. Einschliesslich unserer Abrufrechte beim Internationalen Währungsfonds und Goldreserven, die zur Deckung unserer Währung und unserer Einlagen im Bundesbanksystem vorrätig sind, verfügen wir über rund 22 Milliarden Dollar an Goldreserven – und ich stehe dafür ein, dass sie, wenn nötig, mit ihrem gesamten Gewicht dafür eingesetzt werden, den Wert des Dollars zu erhalten.
Ausserdem besitzen wir grosse Guthaben im Ausland – die unserem Land geschuldete Gesamtsumme übersteigt bei weitem die an unsere Reserven gestellten Forderungen – und unsere Exporte wiederum übersteigen ganz wesentlich unsere Importe.
Kurz, wir brauchen und wir werden auch keine Massnahmen ergreifen, um den Preis für Gold von 35 Dollar pro Unze zu erhöhen, um Währungskontrollen einzuführen – um in eine restriktive Handelspolitik zurückzufallen – oder um unsere Verpflichtungen in aller Welt zu verringern.
Diese Regierung wird den Wert des Dollars in keiner Weise antasten. Das ist ein Versprechen. Vorsicht und gesunder Menschenverstand fordern jedoch, dass neue Schritte unternommen werden, um das Zahlungsbilanzdefizit zu vermindern und um jede Goldkrise zu verhindern. Unsere Erfolge in der Weltpolitik beruhten lange Zeit zum guten Teil auf dem Vertrauen des Auslandes in unsere Zahlungsfähigkeit. Eine Reihe von Präsidalerlässen, Regierungsvorlagen an den Kongress sowie gemeinsamen Anstrengungen zusammen mit unseren Verbündeten werden sofort in die Wege geleitet werden – Bemühungen, die alle darauf ausgerichtet sind, ausländisches Investitionskapital und Touristen in unser Land zu ziehen – die amerikanischen Exporte zu fördern, und zwar bei stabilen Preisen und mit liberaleren Regierungsgarantien und Finanzhilfen – jene Steuer- und Zolllücken zu beseitigen, die unangemessene private Dollarausgaben im Ausland begünstigen – und gemeinsam mit unseren Verbündeten alle Anstrengungen zu teilen, um die gemeinsame Verteidigung der freien Welt und die Hoffnung für das Wachstum in den Entwicklungsländern zu gewährleisten. Während das derzeitige Defizit anhält, werden Wege gefunden werden, um unsere Dollarausgaben im Ausland zu verringern, ohne dass dabei die volle Last den Familien jener Männer aufgebürdet wird, die wir aufgefordert haben, unter unserer Fahne im Ausland zu dienen.
 
III.

Wir werden alles tun, was getan werden muss. Denn unser Staatshaushalt strotzt nur so von unvollendeten und vernachlässigten Aufgaben. Unsere Städte ersticken im Schmutz. Zwölf Jahre nachdem der Kongress verkündet hat, unser Ziel sei "ein würdiges Heim und eine geeignete Umwelt für jede amerikanische Familie", wohnen noch immer 25 Millionen Amerikaner in unzureichenden Behausungen. Wir müssen noch in diesem Jahr ein neues Wohnbauprogramm unter einem neuen Wohnbau- und Städteplanungsministerium in Angriff nehmen.
Unsere Schulen haben zwei Millionen mehr Schüler, als sie eigentlich unterbringen können, und in ihnen unterrichten 90'000 nicht voll qualifizierte Lehrer. Ein Drittel der begabtesten Absolventen der Mittelschulen sind finanziell nicht in der Lage, ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Die Kriegskinder aus den vierziger Jahren, die unsere Schulen in den fünfziger Jahren überfüllten, drängen nunmehr in den sechziger Jahren auf die Hochschulen – und unsere Hochschulen sind schlecht auf diesen Ansturm vorbereitet. Es mangelt uns an Wissenschaftern, Technikern und Lehrkräften, die unsere weltweiten Verpflichtungen erfordern.

Die medizinische Forschung hat neue Wunder bewerkstelligt, doch diese Wunder sind oft ausserhalb der Reichweite von allzu vielen Menschen, weil sie nicht das entsprechende Einkommen haben (das gilt insbesondere für alte Menschen), weil es an Krankenhausbetten fehlt, weil es an Pflegeheimen und an Ärzten und Zahnärzten fehlt. Noch in diesem Jahr müssen  Massnahmen getroffen werden, um die Gesundheitsfürsorge für die Alten und die Sozialversicherung einzubeziehen und sowohl der erforderlichen Einrichtungen als auch das Personal zu vermehren.
Es gibt noch weitere Punkte im amerikanischen Alltag. Unsere Trinkwasserversorgung wird immer schwieriger. Organisiertes Verbrechertum und Jugendkriminalität kosten den Steuerzahler jährlich Millionen Dollar und machen es dringend erforderlich, die Exekutivorgane weiter zu stärken und neue gesetzliche Sicherungen zu schaffen. Dass amerikanische Mitbürger auf Grund ihrer Rassenzugehörigkeit verfassungsmässige Rechte – an der Wahlurne und auch anderswo – vorenthalten werden, belastet unser nationales Gewissen und trägt uns vor der Weltmeinung den Vorwurf ein, unsere Demokratie sei der grossen Verheissung unseres Erbes nicht würdig.

All diese Probleme verblassen, wenn man sie mit jenen vergleicht, denen wir draussen in der Welt gegenüberstehen. Jeder Mensch, der dieses Amt auf sich nimmt, muss ohne Rücksicht auf seine Parteizugehörigkeit und auf seine früheren Erfahrungen in Washington geradezu von Schwindel befallen werden, wenn er – und sei es selbst in zehn kurzen Tagen – die ungeheure Zahl von Bewährungsproben erkennt, die wir in den nächsten vier Jahren bestehen müssen. Mit jedem Tag wird ihre Lösung schwieriger. Mit jedem Tag, an dem die Bewaffnung weiter um sich greift und die feindlichen Kräfte stärker werden, kommt die Stunde der höchsten Gefahr um ein Stück näher. Unsere Untersuchungen in den letzten zehn Tagen machen es klar – und ich erachte es als meine Pflicht, den Kongress darüber zu informieren – dass uns in jedem einzelnen der wichtigsten Krisengebiete die Ereignisse davongelaufen sind und die Zeit nicht unser Freund war.

In Asien bedroht der anhaltende Druck der chinesischen Kommunisten die Sicherheit des gesamten Gebietes – von den Grenzen Indiens und Südvietnams bis zu den Dschungeln von Laos, das um den Schutz seiner neugewonnen Unabhängigkeit ringt. Wir erstreben in Laos dasselbe, was wir in ganz Asien und darüber hinaus in der ganzen Welt erstreben, nämlich Freiheit für das Volk und Unabhängigkeit für die Regierung. Unsere Nation wird auch weiterhin und mit viel Ausdauer diese Ziele zu erreichen suchen.
In Afrika wurde der Kongo durch Bürgerkrieg, politische Unruhen und öffentlichen Aufruhr brutal zerrissen. Wie werden die heroischen Anstrengungen der Vereinten Nationen zur Wiederherstellung von Frieden und Ordnung weiterhin unterstützen – Anstrengungen, die gegenwärtig durch zunehmende Spannungen, ungelöste Probleme und abnehmende Unterstützung von Seiten vieler Mitgliederstaaten gefährdet werden.

In Lateinamerika haben kommunistische Agenten, welche die dort in Gang gekommen friedliche Revolution der Hoffnung auszunützen suchen, auf Kuba einen Stützpunkt nur neunzig Meilen vor unseren Küsten errichtet. Unsere Einwände gegen Kuba richten sich keineswegs gegen das Streben des Volkes nach einem besseren Leben, sondern dagegen, dass dieses Streben von aus- und inländischen Tyrannen beherrscht wird. Soziale und wirtschaftliche Reformen in Kuba sollten angeregt und gefördert werden. Fragen der Wirtschafts- und Handelspolitik können jederzeit Gegenstand von Verhandlungen sein. Aber über eine kommunistische Herrschaft in dieser Hemisphäre kann niemals verhandelt werden.
In Europa sind unsere Bündnisse in einiger Unordnung. Die Einheit der NATO wurde durch wirtschaftliche Rivalität geschwächt und durch nationale Interessen teilweise unterhöhlt. Sie hat ihre Hilfsquellen noch nicht voll mobilisiert und sich auch nicht völlig zu einheitlichen Auffassungen durchgerungen. Aber keine atlantische Macht kann auf eigene Faust die gegenseitigen Probleme meistern, denen wir in der Verteidigung, der Auslandhilfe, in Fragen der Finanzreserven und auf einer ganzen Reihe weiterer Gebiete gegenüberstehen, und unsere engen Bindungen zu jenen, deren Hoffnungen und Interessen wir teilen, zählen schliesslich zu den mächtigsten und wichtigsten Positiva unseres Landes.

Unser grösstes Problem ist nach wie vor die Welt jenseits des Eisernen Vorhanges, sind nach wie vor unsere Beziehungen zur Sowjetunion und zum kommunistischen China. Wir dürfen uns niemals zum Glauben verleiten lassen, das auch nur eine dieser beiden Mächte ihre ehrgeizigen Pläne zur Welteroberung aufgegeben habe – wurden diese ehrgeizigen Pläne doch erst vor kurzer Zeit bekräftigt. Unsere Aufgaben muss es also sein, sie davon zu überzeugen, dass Aggression und Subversion keine Wege zu diesem Ziel sind. Offener und friedlicher Wettstreit – um Prestige, um Märkte, um wissenschaftliche Leistungen, ja selbst um den Geist der Menschen – ist etwas ganz anderes. Denn wenn die Freiheit und der Kommunismus in einer Welt des Friedens um Anhängerschaft wetteifert, dann würde ich der Zukunft mit wachsendem Vertrauen entgegensehen.
Um all diese Bewährungsproben zu bestehen, um in der Welt die Rolle zu spielen, der wir uns nicht entziehen können, müssen wir unser gesamtes Arsenal von Werkzeugen überprüfen und revidieren, und zwar die militärischen, wirtschaftlichen und politischen. Keines darf das andere überschatten. In unserem Präsidialwappen hält der amerikanische Adler in seiner rechten Klaue den Ölzweig, in seiner Linken ein Bündel von Pfeilen. Wir haben die Absicht, beiden die gleiche Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Zunächst müssen wir unsere militärischen Werkzeuge stärker machen. Wir überschreiten die Schwelle einer Zeit ungewisser Risiken, die eine freie Welt erfordern, die so mächtig ist, dass sie jede Aggression von vornherein eindeutig zur Nutzlosigkeit verurteilt. Und doch war es immer schwierig, genau einzuschätzen, wie ausreichend – oder unzureichend – unsere Verteidigung tatsächlich war und ist, und Schuld an diesem Zustand war der Mangel an einer konsequenten, zusammenhängenden militärischen Strategie, der Mangel an grundlegenden Thesen hinsichtlich unserer nationalen Erfordernisse und schliesslich auch die Fehleinschätzung und die Doppelgleisigkeit, die sich aus der Rivalität zwischen den einzelnen Dienstzweigen ergaben.
Aus diesem Grunde habe ich den Verteidigungsminister angewiesen, unsere gesamte Strategie einer Neubearbeitung zu unterziehen: Unsere Fähigkeiten, übernommene Verpflichtungen zu erfüllen; die Wirksamkeit, Verwundbarkeit und Verteilung unserer strategischen Stützpunkte, Streitkräfte und Warnsysteme; die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit unseres operativen und organisatorischen Aufbaus; die Beseitigung veralteter Stützpunkte und Installationen und schliesslich die ausreichende Stärke, Modernisierung und Beweglichkeit unserer konventionellen und nuklearen Streitkräfte und Waffensysteme im Lichte gegenwärtiger und künftiger Gefahren.
In der Zwischenzeit habe ich den Verteidigungsminister gebeten, sofort drei Massnahmen in die Wege zu leiten, die offenkundig dringend erforderlich sind:

a) 
Ich habe Massnahmen angeordnet, um unsere Kapazität für Lufttransporte zu erhöhen. Eine sofortige zusätzliche Beweglichkeit bei Lufttransporten wird es unseren konventionellen Streitkräften besser ermöglichen, mit Schnelligkeit und Überlegung in jedem Augenblick jedem Problem zu begegnen, das sich irgendwo auf der Welt ergibt. Insbesondere wird uns das ermöglichen, jedem systematischen Versuch entgegenzutreten, durch Anzettelung von Kleinkriegen in weit auseinander liegenden Weltteilen uns abzulenken.

b) 
Ich habe Massnahmen angeordnet, um unser Bauprogramm für "Polaris"-Unterseeboote zu intensivieren. Durch die sofortige Verwendung von Geldmitteln, die für Schiffsbaukontrakte im kommenden Fiskaljahr vorgesehen waren, werden wesentlich mehr Einheiten dieser entscheidenden Abschreckungswaffe gebaut und in Dienst gestellt werden können – mindestens neun Monate früher als geplant. Diese Flotte wird nie als erste angreifen, aber – verborgen unter dem Meeresspiegel – eine ausreichende Abschreckungskraft besitzen, um jeden Aggressor von einem Angriff abzuhalten.

c) 
Ich habe rasche Massnahmen angeordnet, unser gesamtes Missile-Programm zu beschleunigen. Bis der neue Entwurf des Ministers fertig gestellt ist, wird das Hauptgewicht hier hauptsächlich auf einer Verbesserung der Organisation und der Entscheidungsbefugnis liegen, auf der Reduzierung der verlustreichen Doppelgleisigkeiten und Verzögerungen, unter der sämtliche Fernwaffen zu leiden hatten. Wenn wir den Frieden erhalten wollen, dann brauchen wir eine unverwundbare Raketenwaffe, die so stark ist, dass sie jeden Aggressor sogar vor der blossen Androhung eines Überfalls abhält, von dem er wüsste, dass er damit nicht genug unserer Kräfte vernichten könnte, um seiner eigenen Vernichtung zu entgehen. Denn – wie ich in meiner Inaugurationsrede gesagt habe - "nur, wenn unsere Waffen über aller Zweifel ausreichend sind, können wir über jeden Zweifel gewiss sein, dass sie niemals gebraucht werden".
Zweitens müssen wir unsere wirtschaftlichen Werkzeuge verbessern. Unerlässlich und von entscheidender Wichtigkeit ist unsere Mitarbeit beim Aufbau einer gesunden und sich ausweitenden Wirtschaft in der gesamten nicht kommunistischen Welt und bei der Hilfeleistung für andere Völker zur Erreichung jener Stärke, mit der sie dann ihre Probleme selbst meistern, ihre Wünsche befriedigt und die ihnen drohenden Gefahren überwinden können.

a) 
Ich beabsichtige, den Kongress um die Vollmacht zur Schaffung eines neuen und wirksameren Programms zur Hilfe bei der Entwicklung der Wirtschaft und des Erziehungs- und Sozialwesens anderer Länder und Erdteile zu ersuchen. Dieses Programm muss auch unsere Verbündeten zu Beitragsleistungen anregen, und es muss eine zentrale Planung für alle unsere eigenen Programme schaffen, die sich so oft überschneiden, einander zuwiderlaufen oder unsere Energien verzetteln. Verglichen mit früheren Programmen, wird ein derartiges Programm erfordern:
- mehr Flexibilität für kurzfristige Notfälle,
- mehr Verpflichtungen für langfristige Entwicklungsaufgaben
- neue Aufmerksamkeit für das Erziehungswesen
- grössere Berücksichtigung der Rolle, der Eigenanstrengung und der Absichten des Empfängerlandes
- grössere soziale Gerechtigkeit
- breitere Verteilung und Teilnahme
- wirksamere öffentliche Verwaltung und Steuersysteme
- ausgewogenere Planung für länder- oder gebietsweise Entwicklung statt stückweise Aktionen

b) 
Ich hoffe, dass der Senat den Vertrag über die Schaffung der OECD schnell genehmigen wird. Diese Organisation wird ein wichtiges Instrument darstellen, mit unsern Verbündeten diese Entwicklungshilfe zu teilen und auf jenen Zeitpunkt hinzuarbeiten, da jedes Volk entsprechend seiner eigenen Zahlungsfähigkeit Beiträge leisten wird. Denn wenn wir auch bereit sind, unseren vollen Anteil an diesen schweren Lasten auf uns zu nehmen, so können wir sie doch nicht allein tragen.

c) 
Unseren Schwesterrepubliken im Süden haben wir eine neue Allianz für den Fortschritt zugesichert – "Alianza para el Progreso". Unser Ziel ist ein freies und blühendes Lateinamerika, wobei für all seine Staaten und deren Bürger ein solches Ausmass an wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt verwirklicht werden soll, wie es ihrem Beitrag zur Kultur, zur geistigen Entwicklung und zur Freiheit zukommt.

d) 
Unsere Regierung ist im Begriff, das neue "Nahrungsmittel-für-den-Frieden"-Programm auf jede nur mögliche Art zu erweitern. Unsere Überschussgüter werden wirksamer verwendet werden, um in allen Winkeln der Erde den Hunger zu lindern und das wirtschaftliche Wachstum zu fördern.

e) 
Ein wertvolles Kapital unseres Landes bildet unser Reservoir an tatendurstigen Männern und Frauen – nicht nur an den Hochschulen, sondern in jeder Altersgruppe – die den Wunsch bekundet haben, ihren Beitrag zur Verbesserung der Welt zu leisten. Wir können diese Kräfte durch die Bildung eines "Nationalen Friedenskorps" mobilisieren und damit die Dienste all jener annehmen, die den Wunsch und die Fähigkeit haben, anderen Ländern ihren akuten Mangel an geschulten Fachkräften beseitigen zu helfen.

f) 
Schliesslich dürfen wir, während unser Hauptaugenmerk der Entwicklung der nicht kommunistischen Welt gilt, niemals unsere Hoffnung auf eine Zukunft der osteuropäischen Völker in Freiheit und Wohlstand vergessen. Um für eine Wiederanknüpfung historischer Freundschaftsbande entsprechend vorbereitet zu sein, ersuche ich den Kongress um erweiterte Befugnisse bei der Anwendung wirtschaftlicher Werkzeuge für diese Gebiete in Fällen, wo dies in unserem nationalen Interesse klar angezeigt erscheint.

Drittens müssen wir unsere politischen und diplomatischen Werkzeuge schärfen – die Instrumente der Zusammenarbeit und Einigung, auf denen eine durchführbare Weltordnung letzten Endes beruhen muss.
Ich habe bereits Schritte unternommen, um unsere Abrüstungsbedingungen zu koordinieren und zu erweitern – um die Zahl unserer Forschungs- und Studienprogramme zu erhöhen – und um die Rüstungskontrolle unter meiner persönlichen Leitung zum zentralen Ziel unserer nationalen Politik zu machen. Der tödliche Rüstungswettlauf und die ungeheuren Vermögenswerte, die er verschlingt, überschatten schon allzu lange alles andere, was wir tun. Wir müssen verhindern, dass dieser Rüstungswettlauf auf neue Nationen, neue Atommächte und auf die Bereiche des Weltraums übergreift. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Unterhändler besser vorbereitet sind, eigene ausführbare Vorschläge zu formulieren und die Vorschläge der Anderen vernünftig zu beurteilen.
Ich habe die betreffenden Regierungen um eine annehmbare Verschiebung der Gespräche über die Einstellung der  Kernwaffenversuche ersucht – und wir haben die Absicht, die Verhandlungen so vorbereitet wieder aufzunehmen, dass wir ein endgültiges Abkommen mit jeder Nation treffen können, die ebenso wie wir bereit ist, einem wirksamen und ausführbaren Vertrag ihre Zustimmung zu geben.

Zunehmende Unterstützung müssen wir den Vereinten Nationen zuteil werden lassen, denn wir sehen in ihnen ein Instrument zur Beendigung des Kalten Krieges und nicht eine Arena, in der er ausgetragen wird. In Anerkennung ihrer wachsenden Bedeutung und der Verdoppelung ihrer Mitgliederzahl:
- stärken und vergrössern wir unsere Mission bei den Vereinten Nationen
- werden wir mit dazu beitragen, dass sie ausreichend finanziert werden
- werden wir darauf hinarbeiten, dass die Integrität des Amtes des Generalsekretärs erhalten beleibt
Und ich möchte hier insbesondere an die kleineren Länder der Welt appellieren, sich uns bei der Stärkung dieser Organisation anzuschliessen, die für ihre Sicherheit viel wichtiger ist als für die unsere und die in der heutigen Welt das einzige Gremium darstellt, in dem Sicherheit eines Landes nicht von seiner Macht abhängig ist, wo jede Nation über eine gleichwertige Stimme verfügt und wo der Einfluss eines Landes nicht an der Stärke seiner Armeen gemessen wird, sondern an der Kraft seiner Ideen.

Schliesslich aber hat diese Regierung die Absicht, unverzüglich jeden nur möglichen Bereich einer Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und anderen Nationen zu erforschen, „um nicht die Schrecken, sondern die Wunder der Wissenschaft zu entwickeln“. Konkret lade ich damit alle Nationen – einschliesslich der Sowjetunion – ein, gemeinsam mit uns an der Entwicklung eines Wettervorhersage-Satelliten und an den Vorbereitungen zur Erforschung der Planeten Mars und Venus zu arbeiten – eine Forschung, die uns eines Tages die tiefen Geheimnisse des Universums enthüllen könnte.
Heute liegt unser Land in der Weltraum-Wissenschaft und –Technik an der Spitze, während die Sowjetunion eine grössere Kapazität bei der Entsendung schwerer Raumfahrtfahrzeuge auf eine Umlaufbahn besitzt. Beide Völker würden sowohl sich selbst als den anderen Völkern einen Dienst erweisen, wenn sie diese Unternehmungen aus der bitteren und verlustreichen Wettbewerbsatmosphäre des Kalten Krieges heraushalten wollten. Die Vereinigten Staaten wären bereit, mit der Sowjetunion und den Wissenschaftern aller Nationen an vermehrten Anstrengungen zusammenzuarbeiten, die Früchte dieses neuen Wissens allen zugänglich zu machen – und darüber hinaus zusammenzuarbeiten bei den Bemühungen, die hungernden Nationen mit modernen landwirtschaftlichen Methoden bekannt zu machen, Krankheiten auszurotten, den Austausch von Wissenschaftern und deren Erkenntnissen zu intensivieren und unsere eigenen Laboratorien jenen Fachleuten aus anderen Ländern zugänglich zu machen, die in ihren eigenen Heimatstaaten nicht die Möglichkeit haben, ihre Arbeiten weiter fortzuführen. Wo die Natur uns alle zu natürlichen Bundesgenossen macht, da können wie beweisen, dass nutzbringende Beziehungen selbst jenen möglich sind, mit denen wir sonst in keiner Weise übereinstimmen – und das muss eines Tages die Grundlage für Frieden und Recht in der Welt sein.  

 
IV.

Ich möchte schliessen mit einigen Worten über den Regierungsapparat. Wir haben ihn voll von integeren und erfahrenen Beamten gefunden – aber ihre Fähigkeiten, genau in jenem Augenblick entscheidend zu handeln, wo Handeln erforderlich ist, war nur allzu oft erstickt in einem Wust von Komitees, Ängstlichkeit und unfruchtbaren Theorien, die eine immer grösser werdende Kluft zwischen Entscheidung und Ausführung, zwischen Planung und Verwirklichung entstehen liessen. In einer Zeit, in der sich die Situation daheim besonders im Ausland rapid verschlechtert, ist das schlimm für die Verwaltung und besonders für das Land; wir wollen hier Wandel schaffen.
Ich verpflichte mich hier, Initiative, Verantwortungsbewusstsein und Energie bei der Arbeit im öffentlichen Interesse unablässig zu ermutigen. Jeder Beamte soll wissen, dass Rang und Ansehen eines Mannes in dieser Regierung von der Grösse seiner Arbeitsleistung abhängig werden und nicht von der Grösse seines Mitarbeiterstabes, seines Büros oder seines Budgets. Es soll allen klar sein, dass diese Regierung den Wert von Mut und eigener Meinung zu schätzen weiss und dass wir eine gesunde Meinungsverschiedenheit als Kennzeichen eines gesunden Wandels begrüssen.
Denn nur wenn wir alle uns mit letzter Hingebung in den Dienst unserer nationalen Sache stellen, können wir unser Vaterland durch die schweren Jahre bringen, die vor uns liegen. Unsere Probleme sind kritisch. Die Strömung ist ungünstig. Die Nachrichten werden zunächst nicht besser, sondern noch schlechter werden. Und während wir das Beste hoffen, sollten wir auf das Schlimmste gefasst sein.
Wir können den Gefahren nicht entrinnen – aber wir dürfen uns von ihnen weder in Panik versetzen noch in Isolation treiben lassen. In vielen Gebieten der Welt, wo sich das Gleichgewicht der Kräfte bereits zugunsten unseres Gegners verschoben hat, sind die Kräfte der Freiheit scharf gespalten. Es ist eine Ironie unserer Zeit, dass es den Methoden eines strengen Unterdrückungssystems gelingt, seinen Untertanen Zucht und Begeisterung beizubringen – während die Segnungen der Freiheit nur zu oft mit Privilegien, Materialismus und soglosem Leben verwechselt worden sind.
Aber ich fasse die Freiheit anders auf.
Das Leben im Jahr 1961 wird nicht leicht sein. Daran lässt sich auch durch Wünsche, Voraussagen und nicht einmal durch Bitten etwas ändern. Es wird weitere Rückschläge geben, ehe sich das Blatt wendet. Aber wir müssen das Blatt wenden. Die Hoffnungen der ganzen Menschheit ruhen auf uns – nicht nur auf uns hier in diesem Raum, sondern ebenso auf dem Bauern in Laos, dem Fischer in Nigeria oder dem Flüchtling aus Kuba, auf dem Geist, der alle Menschen und Nationen erfüllt, die unsere Hoffnungen auf Freiheit und Zukunft teilen. Und zu guter Letzt ruhen sie vor allem auf dem Stolz und der Standhaftigkeit unserer amerikanischen Mitbürger. ♦


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Peter W. Klages